Nachruf auf Wiesike (ab Seite 72)

… aus der Vos­si­schen Zeitung

Auf sei­ner Besit­zung bei Plaue a.H. starb am U.d.M. im zwei­und­acht­zigs­ten Lebens­jah­re Carl Fer­di­nand Wiesike, ein durch Gaben des Geis­tes und Gemü­tes aus­ge­zeich­ne­ter Mann.

Einer alten, noch am Orte blü­hen­den Kauf­manns­fa­mi­lie zu Bran­den­burg a. H. ent­spros­sen, ergriff er selbst den kauf­män­ni­schen Beruf und war, in sei­ner Jugend, in dem hie­si­gen Heyl­schen Geschäf­te, Leip­zi­ger Stra­ße, tätig. Aber schon in den zwan­zi­ger Jah­ren über­nahm er die Lei­tung einer bei Plaue, gegen­über der alten Quit­zow-Schloß­ka­pel­le, neu­be­grün­de­ten Zie­ge­lei, deren Erträ­ge sehr bald ihn in den Stand setz­ten, ein angren­zen­des, räum­lich nicht unbe­deu­ten­des Ter­ri­to­ri­um an sich zu bringen. 

Es war aber zu grö­ße­rem Teil ein ste­ri­ler Boden, und so rich­te­te sich denn von Anfang an sein Sin­nen und Trach­ten auf Melio­ra­ti­on. Die Fra­ge war nur wie? …

Das Ver­fah­ren, das er ein­schlug, zeig­te gleich im Beginn einer Lauf­bahn das prak­ti­sche Genie, das auf abseits des Weges gele­ge­ne Hilfs­mit­tel ver­fiel. Es han­del­te sich um Her­bei­schaf­fung von Dün­ger, und da sich vor­läu­fig, bei der unbe­deu­ten­den Ertrags­fä­hig­keit der Län­de­rei­en, eine gra­de Dün­ger pro­du­zie­ren­de Wirt­schafts­füh­rung ver­bot, so schloß er mit den Mar­stall­vor­stän­den in Pots­dam ein Abkom­men, wonach ihm der auf Havelk­äh­ne gela­de­ne Stall­dün­ger bis unmit­tel­bar an sei­ne den Fluß ent­lang gele­ge­nen Län­de­rei­en her­an­ge­führt wur­de. Das Gua­no-Bewirt­schaf­tungs­prin­zip vor Anbruch der Gua­no-Zeit. Die Distanz betrug 4 Mei­len, auf dem Was­ser­we­ge viel­leicht 6, aber der kauf­män­ni­sche Kal­kül war so sicher gemacht, daß unser Neue­rer die lächeln­den Bes­ser­wis­ser bald zum Schwei­gen brach­te. Wiesike pro­spe­rier­te, wur­de reich und zog sich, als er sein fünf­zigs­tes Lebens­jahr über­schrit­ten, von den Geschäf­ten zurück, um den Rest sei­ner Tage »com­me phi­lo­so­phe« zuzu­brin­gen. Er grün­de­te sich sein »Sans­sou­ci« an der­sel­ben Havel­ufer­stel­le, die der Aus­gangs­punkt sei­ner rei­chen schöp­fe­ri­schen Tätig­keit gewe­sen war, und wan­del­te das ein­fa­che Haus, von dem aus er sei­ne Zie­gel- und Land­wirt­schaft geführt hat­te, in eine von geschmack­vol­len Park­an­la­gen umge­be­ne Vil­la um. Ein ent­zü­cken­der Ruhe­sitz, an dem es ihm noch an die drei­ßig Jah­re ver­gönnt war, in vol­ler Geis­tes­fri­sche zu leben und gast­frei zu sein und Wohl­ta­ten zu spen­den.
Es ist aber doch ein ande­res noch, um des­sent­wil­len die­se Zei­len sei­ner geden­ken. Er war nicht bloß ein genia­ler Prak­ti­ker, der nach eige­nem selb­stän­di­gen Geden­ken sich vor­wärts­zu­brin­gen ver­stand, er hat­te das »eige­ne Den­ken« auf jedem Gebie­te und ver­ach­te­te nichts so sehr als den Glau­ben an das allein Selig­ma­chen­de der Über­lie­fe­rung. Er ließ die Tra­di­ti­on gel­ten, er respek­tier­te sie sogar und war weit­ab davon, ein Refor­mer à tout prix sein zu wol­len, aber eben­so gewiß er alles Neue kri­tisch ansah und es nicht eher annahm, als bis es die Pro­be bestan­den, eben­so kri­tisch ver­hielt er sich gegen das Alte, des­sen Anspruch auf Gül­tig­keit, bloß weil es alt, er mit jugend­li­chem Eifer bestritt. Und so kann es denn kaum noch über­ra­schen, daß wir ihn auf den ver­schie­dens­ten geis­ti­gen Gebie­ten als einen eif­ri­gen För­de­rer epo­che­ma­chen­der Ideen und unter den begeis­terts­ten Vor­kämp­fern eben­die­ser erblicken.

Unmit­tel­bar fast nach Hah­ne­manns Auf­tre­ten trat er in per­sön­li­che Bezie­hun­gen zu die­sem und bekann­te sich nicht nur zu den Grund- und Lehr­sät­zen des­sel­ben, son­dern ward auch, wenn man die­sen Aus­druck gestat­ten will, der Homöo­pa­the­n­apos­tel für den alten Gau Hevel­dun. Ein voll­kom­me­nes Wall­fahr­ten begann, und es gab Tage, wo die Hei­lung suchen­den Leu­te bis zu Hun­dert und dar­über auf sei­nem Flur und, als die­ser sich zu klein erwies, auf sei­nem Hofe lager­ten. Alt­ehr­wür­di­ge Inter­es­sen von Dok­tor und Apo­the­ker wur­den dadurch der­ar­tig geschä­digt, daß nach einer Rei­he von Jah­ren ein Ver­bot gegen ihn erging, des­sen gesetz­li­che Zuläs­sig­keit unbe­strit­ten blei­ben soll; aber nicht weni­ger unbe­strit­ten ist wohl die Tat­sa­che, daß er vie­len Tau­sen­den ein Trost- und Gesund­heits­spen­der, in der gan­zen Bran­den­bur­ger Gegend ein Pio­nier und Kon­questa­dor für die neue medi­zi­ni­sche Leh­re gewe­sen ist. Er hielt an ihren Grund­sät­zen fest bis zuletzt und hat es, wie sei­ne zwei­und­acht­zig Jah­re bezeu­gen, nicht zu bedau­ern gehabt.

Es war Ende der zwan­zi­ger Jah­re, als er enthu­si­as­ti­scher Homöo­path wur­de; drei­ßig Jah­re spä­ter ergriff ihn ein zwei­ter Enthusias­mus: er wur­de Scho­pen­hau­e­ria­ner. Wenn ich nicht irre, war es der dama­li­ge Redak­teur die­ser Zei­tung, Dr. Lind­ner, der ihn auf Scho­pen­hau­er hin­wies und in dem vor­ge­schrit­te­nen Fünf­zi­ger eine Begeis­te­rung weck­te, die bald über die des Anre­gung geben­den ers­ten Leh­rers hin­aus­wuchs. Wiesike trat in per­sön­li­che Bezie­hun­gen zu Scho­pen­hau­er wie frü­her zu Hah­ne­mann, unter­ließ es sel­ten, all­jähr­lich bei dem »Meis­ter in Frank­furt« vor­zu­spre­chen, und war einer der Eif­rigs­ten unter denen, die — ich weiß nicht mehr, bei wel­cher Gele­gen­heit — eine gro­ße Scho­pen­hau­er-Fei­er anreg­ten und durch­führ­ten. Er spen­de­te den Ehren­be­cher, er erstand das Bild des Meis­ters und kauf­te schließ­lich, aus dem Nach­las­se des Heim­ge­gan­ge­nen, den Ehren­be­cher zurück, den er eini­ge Jah­re vor­her dem­sel­ben über­reicht hat­te. Man glau­be jedoch ja nicht, daß dies alles nur Taten eines von einer Kote­rie geschickt »Ein­ge­fan­ge­nen« gewe­sen wären —  der alte, klu­ge Wiesike war nicht der Mann danach und durf­te mit Wind­thorst-Meppen sagen: »Wer mich ein­fan­gen will, der muß frü­her auf­ste­hen.« Alles, was er an Hul­di­gun­gen bei die­ser und ande­ren Gele­gen­hei­ten dar­brach­te, sproß nicht aus Eitel­keit und sich geschmei­chelt füh­len­dem Mot­ten­bür­ger­tum (über das er weit hin­aus war), son­dern aus jener inner­li­chen Über­zeu­gung, die dem Wis­sen und dem Zuhau­se­sein in den Dis­zi­pli­nen ent­sprießt. Er hat­te sei­nen Scho­pen­hau­er wohl zwan­zig­mal gele­sen, bis zum Aus­wen­dig­wis­sen gan­zer Kapi­tel, und war in jeder Faser sei­nes Wesens von ihm durch­drun­gen. Und daß der Pes­si­mis­mus nicht rui­niert, son­dern unter Umstän­den auch eine för­dern­de, huma­ni­tä­re Sei­te hat, des­sen konn­te man an dem alten Wiesike gewahr wer­den. Er hat­te das Mit­leid — nach Scho­pen­hau­er der Mensch­heit bes­tes Teil —, und es sind ihrer vie­le, die die Seg­nun­gen die­ses Mit­leids erfah­ren haben.

Es mögen jetzt sie­ben Jah­re sein, daß ich den alten Herrn auf sei­ner anmu­ti­gen Besit­zung ken­nen­lern­te. Seit­dem sah ich ihn öfter, meist wenn ich abge­ar­bei­tet und elend war, und nie bin ich von ihm fort­ge­gan­gen, ohne mich an sei­ner Havel, an sei­nem Wein und, um das Bes­te nicht zu ver­ges­sen, an ihm sel­ber erholt zu haben. Er ver­stand zu bele­ben, zu trös­ten, ohne daß je ein Tros­tes­wort über sei­ne Lip­pen gekom­men wäre. Dazu war er viel zu klug und viel zu fein. Ich kann sei­ner nicht ohne Dank und Rüh­rung geden­ken und zäh­le die mit ihm ver­plau­der­ten Stun­den zu den glück­lichs­ten und best­an­ge­leg­ten mei­nes Lebens. Heu­te (Frei­tag) wird er in sei­nem Park, an längst vor­her­be­stimm­ter, von einem hohen Obe­lisk über­rag­ter Stel­le begra­ben, und ich bezweif­le nicht, daß Hun­der­te von nah und fern her­bei­ge­eilt sein wer­den, um dem Seni­or, dem Wohl­tä­ter und vor allem dem guten Men­schen ein letz­tes Lie­bes­zei­chen aufs Grab zu legen. Und das will ich auch, wenn der Flie­der­gang wie­der blüht, der, in lan­gem Spa­lie­re, von dem Park aus nach dem Obe­lis­ken auf­wärts führt.


Th. Fon­ta­ne und C.F. Wiesike (ab Sei­te 75)